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WALI

 

«Hm», sagte Bruno. Über seinen struppigen Augenbrauen bildeten sich Schweissperlen. Es war kein gleichgültiges und auch kein ratloses «Hm». Es war Ausdruck eines ernsthaften Versuchs, eine Antwort zu finden. Mit seiner Körpergrösse von 1 Meter 90 und seiner kräftigen Statur war er ein imposanter Mann. Doch in diesem Moment – er sass etwas eingesunken auf dem braunen Ledersessel – wirkte er fast zerbrechlich. Bruno räusperte sich. 

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«Ich hätte dem Jungen helfen müssen.»

«Sie fühlen sich verantwortlich für das, was passiert ist?»

«Der Junge war krank. Er hätte medizinische Behandlung gebraucht.»

«Wann wurde Ihnen dies bewusst?»

«Als es zu spät war.»

«Erzählen Sie mir von ihm.»

«Ich dachte, er wäre ein ganz normales Kind. Kinder haben ja oft eine blühende Fantasie, denken sich Geschichten aus. Als dann keine Antwort mehr kam, fing ich an, mir Sorgen zu machen.»

«Und dann sind Sie in die Schweiz gefahren?»

«Ja.»

«Erzählen Sie mir ein wenig mehr von diesen Briefen.»

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Bruno schwieg. Dann beugte er sich nach vorne und öffnete die schwarze Ledertasche, die vor ihm auf dem Boden lag. Er nahm einen Stapel Briefe heraus und betrachtete sie einen nach dem anderen. Dann legte er sie auf seine Knie und öffnete den, der zuoberst lag. Ohne aufzublicken begann er, vorzulesen.

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Sehr geehrter Herr Zweifel

Heute war ich wieder am See. Der Himmel war strahlend blau, die schneebedeckten Berge spiegelten sich im Wasser. Es sah aus, als gäbe es die Welt zweimal, einmal in der Luft und einmal im Wasser. Ich setzte mich auf den grossen, flachen Stein, der in den See ragt, und tauchte meine Füsse ins eiskalte Wasser. Ich fühlte mich heute fröhlich. Salvador hatte gute Laune. Er sagte: Vielleicht gibt es die Welt ja wirklich zweimal, einmal so wie wir sie kennen, und einmal umgekehrt.» Ich habe es nicht verstanden, aber er hat gelacht und gesagt, macht nichts, und sein Schnurrbart hat dabei gezittert, wie immer, wenn er laut lacht. Ich habe über Ihre Frage nachgedacht: Warum ich es nicht meiner Mutter erzähle. Aber sie ist immer so traurig wegen Papa. Ich habe Salvador gefragt, ob Papa im Himmel sei, und wie es dort so sei. Mama kann ich ja nicht fragen, ich darf ihr ja keine Fragen stellen. Salvador hat gesagt: «Ja, dein Papa ist im Himmel, und dort ist es sehr schön.» Ich habe ihn gefragt, wie man dort hinkommt. Er hat gesagt, man müsse es sich nur ganz fest wünschen.

Ich gehe jetzt schlafen, vielleicht bin ich morgen, wenn ich aufwache, schon dort.

Liebe Grüsse

Pirmin

 

Bruno schaute vom Brief auf. Seine Augen waren wässrig. Er schwieg.

«Das war der letzte Brief?»

«Ja. Die Frage ist doch nicht, wie alles begonnen hat, sondern wie es hätte verhindert werden können.»

«Hätte es das? Hätte es verhindert werden können?»

«Ich weiss es nicht. Rose hat immer gesagt, das Leben ist wie es ist.»

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